Erwartungen
Bevor ich in Argentinien ankam,
wusste ich noch nicht besonders viel über die Kultur und die Menschen, die hier
leben, hatte jedoch dank unserer Vorgänger eine grobe Vorstellung davon. Beispielsweise
hatte ich mir nicht vorgestellt, dass es hier, neben vielen Armen, auch sehr
viele sehr Reiche gibt. Genauso wusste ich bereits, dass es große Armut gibt,
jedoch kannte ich nicht die Geschichten, Namen und Schicksale der Betroffenen
und wusste nicht, wie sich diese tatsächlich äußert. Eventuell hatte ich zu
hohe Erwartungen und Ansprüche an mich selbst, was z.B. den Erfolg beim
Unterrichten angeht, wobei ich vorher auch keine Vorstellung davon hatte, wie
das Schulniveau und das Lernverhalten der Schüler sind. Dennoch hatte ich nicht
die Illusion, mit meinem Dienst „die Welt verbessern“ zu können, und ich bin
zufrieden damit, mit meinem Einsatz meinen Anteil beizutragen.
Arbeit
Meine Arbeit teilt sich auf zwei
Einsatzstellen auf, die Grundschule Santiago Apóstol, in der ich montags,
mittwochs und freitags jeweils am Nachmittag bin, und die weiterführende Schule
Pio XII, in der ich dienstags und donnerstags vormittags bin.
In der Grundschule begleite ich
häufig die Klassenlehrerin des 7° grado, die sozusagen meine Tutorin ist, die
sich immer um mich kümmert und mit der ich über alles sprechen kann. Vor allem
im Fach Englisch versuche ich, mich einzubringen, so habe ich bereits gemeinsam
mit der Englischlehrerin Unterricht vorbereitet und eine Einheit zum Thema
„Unregelmäßige Verben“ gestaltet. In mehreren Klassenstufen hatte ich die
Gelegenheit, ein paar Grundlagen in Deutsch zu unterrichten und von Deutschland
zu erzählen, was von den Schülern mit großem Interesse aufgenommen wurde. Vor
Weihnachten habe ich mit einer Klasse im Musikunterricht ein deutsches
Weihnachtslied gesungen und einer anderen im Religionsunterricht das Vater
Unser auf Deutsch beigebracht. Auch in der ersten Klasse konnte ich die
Lehrerin unterstützen, indem ich einzelnen, schwächeren Schülern beim
Abschreiben und dem Erledigen der Aufgaben geholfen habe.
In Pio XII bestanden meine
Tätigkeiten hauptsächlich darin, bei der Sekretariatsarbeit zu helfen, als
Vertretungslehrerin Englisch zu unterrichten und die Arbeit meiner Vorgängerin
fortzuführen, indem ich die Schulbibliothek ordnete.
Da im Dezember bereits die
Schulferien begonnen haben, arbeitete ich ein paar Wochen in der Verwaltung und
Buchhaltung unserer Organisation mit, packte in einer Suppenküche mit an beim
Kochen, Austeilen des Essens sowie der Kinderbetreuung, und half, zusammen mit
einer Mitfreiwilligen, bei der „Equinoterapia Solidaria“, der Reittherapie für
Kinder mit Behinderung, was ich auch im zweiten Halbjahr neben den Aktivitäten
in den Schulen weiterführen werde.
Kultur und Rolle
Was mir bezüglich der Kultur hier
in Argentinien besonders leicht fällt, ist mit den Menschen in Kontakt und ins
Gespräch zu kommen, da auf beiden Seiten großes Interesse besteht und so offen
aufeinander zugegangen wird. Auch hatte ich keinerlei Schwierigkeiten damit,
mich auf kulturelle Unterschiede einzulassen – zu Beginn, als es mit der
Sprache noch ein wenig gehapert hat, habe ich vor allem aufmerksam beobachtet
und dadurch schon viele Differenzen wahrgenommen. Dennoch war es nicht einfach,
auch die Gründe und Zusammenhänge, die dahinterstecken, zu begreifen. Dieser
Prozess hat bei Weitem länger gedauert und ist nun, nach einem halben Jahr,
gewiss noch nicht abgeschlossen. Es fällt nicht nur leicht, sondern macht
besonders viel Spaß, sich von der lateinamerikanischen Lebensfreude und
Gelassenheit mitreißen zu lassen und manche „typisch deutschen“ Gewohnheiten
abzulegen, z.B. das ständige Planen im Voraus. Des Weiteren ist es ein
wunderschönes Gefühl, die unglaubliche Gastfreundschaft der Santiagener
anzunehmen und daraus zu lernen – „Wenn man hier zu jemandem nach Hause kommt,
der nichts hat, außer einem kleinen Stückchen Brot, dann wird er es dir, seinem
Gast, geben“. Sehr begeistert bin ich auch von den Festen, der Musik,
insbesondere der Folklore, und dem typischen Essen, von Asado bis Empanadas,
denn mit all diesem identifizieren sich die Argentinier, was ein starkes Gefühl
der Heimat und der Gemeinschaft entstehen lässt.
Was vermutlich jedem schwerfällt,
der nicht daran gewöhnt ist, ist die Anpassung an die klimatischen Bedingungen,
insbesondere an die Hitze: So ist Santiago del Estero eine der zehn heißesten
Städte der Welt. Und damit hängen weitere kulturelle Umstände zusammen, zum
Beispiel die tägliche Siesta, die hier nicht nur zwei, sondern fast fünf
Stunden geschlafen wird, ein stückweit vermutlich auch die gelassene
Grundeinstellung der Menschen, was wiederum den Umgang mit der Hitze
erleichtert. Mal ist es schwieriger, mal einfacher, mit dem südamerikanischen
Zeitverständnis klarzukommen – einerseits ist es schön, zu spät kommen zu
dürfen, ohne dass sich jemand deshalb beschwert, andererseits muss man
natürlich auch mit längeren Verspätungen der Anderen rechnen. Was auch manchmal
schwerfällt, ist mit der Direktheit der Argentinier umzugehen: Mal wird einem
direkt ins Gesicht gesagt, dass man ja schon ziemlich zugenommen hat, mal
bekommt man nur durch die Blume von der Direktorin gesagt, was man tun und
lassen soll.
Wo ich an meine Grenzen stoße,
ist wenn ich direkt mit der Armut, Drogen- und Gewaltproblemen oder sonstigen
Missständen konfrontiert werde, da dies in mir ein Gefühl der Ohnmacht auslöst.
Diese Ungerechtigkeiten werfen tausend Fragen auf, die größte und schwerste ist
die Frage nach dem Warum: Warum gibt es so extreme Ungleichheiten? Warum müssen
manche Menschen ohne Zugang zu Trinkwasser und Elektrizität leben, während sich
andere gerade einen neuen Porsche kaufen? Warum lassen sich Menschen von der
Regierung an der Nase herumführen? Wie kann es sein, dass in einer
demokratischen Republik Menschen der Mund verboten wird und jemand, der sich
gegen die Regierung äußert, deshalb seinen Job verliert? Und wie schaffen es
diejenigen Menschen hier, die fast nichts haben, voller Hoffnung zu sein und
für das Wenige, das ihnen gegeben ist, so unglaublich dankbar zu sein? Warum
wissen wir unsere Reichtümer kaum zu schätzen und wollen immer noch mehr haben,
ohne uns jemals zufrieden zu geben? Warum trägt hier kaum jemand einen Helm,
wenn er Motorrad fährt? Warum schnallt sich beim Autofahren niemand an? Warum
liegt überall Müll herum? Warum bekommen hier zweijährige Kinder Cola zu trinken?
Warum verzichten Menschen auf Essen, um sich ein Smartphone als Statussymbol
leisten zu können? Warum fällt so oft der Unterricht aus und weshalb gibt es
unzählige Feiertage, an denen nicht gearbeitet wird? Warum sind Beamte
bestechlich und warum sehen Polizisten dabei zu, wenn sämtliche Verkehrsregeln
gebrochen werden? Warum ist es ein normaler Zustand, dass 16-jährige Mädchen
zum zweiten Mal schwanger werden? Warum scheint dieses Land wirtschaftlich den
Bach hinunter zu gehen und von einer Krise in die nächste zu stürzen?
Es irritiert immer wieder aufs
Neue, dass riesige Villen direkt neben Bruchhütten stehen, in denen sich 15
Menschen zwei Zimmer teilen, wie viele junge Mütter in der Öffentlichkeit
stillen, dass scheinbar alles in Raten bezahlt wird, welche Bedeutung hier die
Verehrung von Heiligen, insbesondere von Maria, einnimmt und wie wenig
selbständig und wie abhängig vom Elternhaus der Großteil der jungen Leute hier
ist. Auch ist es ungewohnt, wie mit sozialen Netzwerken umgegangen wird, da es
scheinbar ein anderes Verständnis von Privatsphäre gibt, und wie freizügig die
Mode in einem eigentlich sehr katholischen Land sein kann.
Meiner Meinung nach geschieht
Annäherung in jedem Gespräch, jedes Mal, wenn ich etwas mehr über die Kultur
hier erfahre und etwas von meiner eigenen Kultur erzählen kann, was auf beiden
Seiten den Horizont erweitert und hoffentlich voreilig gefasste Meinungen
abbauen kann.
In der Anfangsphase, als alles
noch so unbekannt und neu war, hatten wir das große Glück, dass uns mit
unglaublich viel Geduld und Verständnis begegnet wurde und wir genug Zeit
hatten, richtig anzukommen und uns einzugewöhnen – an das Klima, die Sprache,
die Stadt, die Menschen. Wir wurden von den Mitarbeitern unserer Organisation,
aber auch vom Freundeskreis unserer Vorgänger willkommen geheißen und hatten
viele Einladungen, sodass wir schnell aufgenommen wurden und Anschluss finden
konnten. Nur manchmal wurde ich ins kalte Wasser geworfen, als ich z.B. in der
Schule alleine vor eine Klasse gestellt wurde, ohne gesagt zu bekommen, was und
mit welchen Materialien man unterrichten soll.
An der Mentalität der Argentinier
begeistern mich die Werte der Gemeinschaft und des Teilens, wie sie in
Deutschland vielleicht als Ideale existieren, nach denen jedoch kaum einer
lebt. Am besten symbolisiert werden diese für mich durch den Mate, der den
Alltag der Menschen hier begleitet und der immer mit Freunden, Familien,
Arbeitskollegen, aber auch mit Fremden oder Neuankömmlingen, wie wir es waren,
geteilt wird – so fühlen sich alle verbunden und dazugehörig. Was gerade für
uns, die wir über Jahre hinweg an einen Schulalltag mit enormem Leistungsdruck
gewöhnt waren, angenehm und eine willkommene Abwechslung ist, ist die
Abwesenheit eben jenen Anspruchs, an dessen Stelle die Akzeptanz und Gewohnheit
des „no hacer nada“, des Nichtstuns, steht. Ganz besonders beeindruckt bin ich
von der großen Bedeutung des Familienlebens und dem damit verbundenen
Zusammenhalt der einzelnen Familienmitglieder. Andererseits hängt damit jedoch
auch zusammen, dass viele junge Menschen sehr wenig bzw. nur langsam lernen,
selbständig zu werden und vom Elternhaus unabhängig zu sein. Was ich an der
südlichen Mentalität ebenfalls toll finde, ist die Improvisationskunst und die
Spontanität, da einem so gezeigt wird, dass es nicht immer nötig ist, alles
genau im Voraus zu planen, da schlussendlich sowieso alles anders kommt, als
man es sich vorstellt und man somit mehr den Moment, mehr im Hier und Jetzt
leben kann. Worin sich die Grundeinstellung der Südamerikaner vermutlich am
meisten von der der Europäer unterscheidet, ist das andere
Verantwortungsbewusstsein. Insbesondere bezüglich des Umgangs mit der Umwelt
ist mir dies aufgefallen: Während wir es beispielsweise gewöhnt sind, in
Deutschland den Müll stets in Restmüll, Kompost, Papier, Plastik, Glas etc. zu
trennen und zu entsorgen, gibt es hier, wenn der Abfall gerade nicht in den
Straßengraben geworfen wird, nur Mischmüll. Gleichermaßen geht kaum jemand
sparsam mit Strom um und obwohl die Menschen die Armut und den Hunger sozusagen
direkt vor der Haustür haben, wird Tag für Tag Essen weggeschmissen. Für Themen
wie Umweltschutz, gesunde Ernährung und Sicherheit im Alltag, vor allem im
Straßenverkehr, gibt es hier keine bzw. nur sehr sporadisch Sensibilisierung
oder Versuche, Bewusstsein dafür herzustellen. Auch wird meines Erachtens
weniger verantwortungsvoll sich selbst und der eigenen Gesundheit gegenüber
umgegangen, was z.B. ausgewogene Ernährung, Zahnhygiene und das Einnehmen von
teilweise sehr starken Medikamenten betrifft. In den Schulen sowie in Familien
habe ich den Eindruck, dass die Kinder mit mehr Gelassenheit erzogen werden,
dass sie mehr Freiräume bekommen als in Deutschland üblich und mehr geduldet
wird.