Montag, 24. Februar 2014

Auszüge aus meinem Zwischenbericht

 

Erwartungen



Bevor ich in Argentinien ankam, wusste ich noch nicht besonders viel über die Kultur und die Menschen, die hier leben, hatte jedoch dank unserer Vorgänger eine grobe Vorstellung davon. Beispielsweise hatte ich mir nicht vorgestellt, dass es hier, neben vielen Armen, auch sehr viele sehr Reiche gibt. Genauso wusste ich bereits, dass es große Armut gibt, jedoch kannte ich nicht die Geschichten, Namen und Schicksale der Betroffenen und wusste nicht, wie sich diese tatsächlich äußert. Eventuell hatte ich zu hohe Erwartungen und Ansprüche an mich selbst, was z.B. den Erfolg beim Unterrichten angeht, wobei ich vorher auch keine Vorstellung davon hatte, wie das Schulniveau und das Lernverhalten der Schüler sind. Dennoch hatte ich nicht die Illusion, mit meinem Dienst „die Welt verbessern“ zu können, und ich bin zufrieden damit, mit meinem Einsatz meinen Anteil beizutragen.

 

Arbeit




Meine Arbeit teilt sich auf zwei Einsatzstellen auf, die Grundschule Santiago Apóstol, in der ich montags, mittwochs und freitags jeweils am Nachmittag bin, und die weiterführende Schule Pio XII, in der ich dienstags und donnerstags vormittags bin.
In der Grundschule begleite ich häufig die Klassenlehrerin des 7° grado, die sozusagen meine Tutorin ist, die sich immer um mich kümmert und mit der ich über alles sprechen kann. Vor allem im Fach Englisch versuche ich, mich einzubringen, so habe ich bereits gemeinsam mit der Englischlehrerin Unterricht vorbereitet und eine Einheit zum Thema „Unregelmäßige Verben“ gestaltet. In mehreren Klassenstufen hatte ich die Gelegenheit, ein paar Grundlagen in Deutsch zu unterrichten und von Deutschland zu erzählen, was von den Schülern mit großem Interesse aufgenommen wurde. Vor Weihnachten habe ich mit einer Klasse im Musikunterricht ein deutsches Weihnachtslied gesungen und einer anderen im Religionsunterricht das Vater Unser auf Deutsch beigebracht. Auch in der ersten Klasse konnte ich die Lehrerin unterstützen, indem ich einzelnen, schwächeren Schülern beim Abschreiben und dem Erledigen der Aufgaben geholfen habe.
In Pio XII bestanden meine Tätigkeiten hauptsächlich darin, bei der Sekretariatsarbeit zu helfen, als Vertretungslehrerin Englisch zu unterrichten und die Arbeit meiner Vorgängerin fortzuführen, indem ich die Schulbibliothek ordnete.
Da im Dezember bereits die Schulferien begonnen haben, arbeitete ich ein paar Wochen in der Verwaltung und Buchhaltung unserer Organisation mit, packte in einer Suppenküche mit an beim Kochen, Austeilen des Essens sowie der Kinderbetreuung, und half, zusammen mit einer Mitfreiwilligen, bei der „Equinoterapia Solidaria“, der Reittherapie für Kinder mit Behinderung, was ich auch im zweiten Halbjahr neben den Aktivitäten in den Schulen weiterführen werde. 
 

 

Kultur und Rolle



Was mir bezüglich der Kultur hier in Argentinien besonders leicht fällt, ist mit den Menschen in Kontakt und ins Gespräch zu kommen, da auf beiden Seiten großes Interesse besteht und so offen aufeinander zugegangen wird. Auch hatte ich keinerlei Schwierigkeiten damit, mich auf kulturelle Unterschiede einzulassen – zu Beginn, als es mit der Sprache noch ein wenig gehapert hat, habe ich vor allem aufmerksam beobachtet und dadurch schon viele Differenzen wahrgenommen. Dennoch war es nicht einfach, auch die Gründe und Zusammenhänge, die dahinterstecken, zu begreifen. Dieser Prozess hat bei Weitem länger gedauert und ist nun, nach einem halben Jahr, gewiss noch nicht abgeschlossen. Es fällt nicht nur leicht, sondern macht besonders viel Spaß, sich von der lateinamerikanischen Lebensfreude und Gelassenheit mitreißen zu lassen und manche „typisch deutschen“ Gewohnheiten abzulegen, z.B. das ständige Planen im Voraus. Des Weiteren ist es ein wunderschönes Gefühl, die unglaubliche Gastfreundschaft der Santiagener anzunehmen und daraus zu lernen – „Wenn man hier zu jemandem nach Hause kommt, der nichts hat, außer einem kleinen Stückchen Brot, dann wird er es dir, seinem Gast, geben“. Sehr begeistert bin ich auch von den Festen, der Musik, insbesondere der Folklore, und dem typischen Essen, von Asado bis Empanadas, denn mit all diesem identifizieren sich die Argentinier, was ein starkes Gefühl der Heimat und der Gemeinschaft entstehen lässt.
Was vermutlich jedem schwerfällt, der nicht daran gewöhnt ist, ist die Anpassung an die klimatischen Bedingungen, insbesondere an die Hitze: So ist Santiago del Estero eine der zehn heißesten Städte der Welt. Und damit hängen weitere kulturelle Umstände zusammen, zum Beispiel die tägliche Siesta, die hier nicht nur zwei, sondern fast fünf Stunden geschlafen wird, ein stückweit vermutlich auch die gelassene Grundeinstellung der Menschen, was wiederum den Umgang mit der Hitze erleichtert. Mal ist es schwieriger, mal einfacher, mit dem südamerikanischen Zeitverständnis klarzukommen – einerseits ist es schön, zu spät kommen zu dürfen, ohne dass sich jemand deshalb beschwert, andererseits muss man natürlich auch mit längeren Verspätungen der Anderen rechnen. Was auch manchmal schwerfällt, ist mit der Direktheit der Argentinier umzugehen: Mal wird einem direkt ins Gesicht gesagt, dass man ja schon ziemlich zugenommen hat, mal bekommt man nur durch die Blume von der Direktorin gesagt, was man tun und lassen soll.
Wo ich an meine Grenzen stoße, ist wenn ich direkt mit der Armut, Drogen- und Gewaltproblemen oder sonstigen Missständen konfrontiert werde, da dies in mir ein Gefühl der Ohnmacht auslöst. Diese Ungerechtigkeiten werfen tausend Fragen auf, die größte und schwerste ist die Frage nach dem Warum: Warum gibt es so extreme Ungleichheiten? Warum müssen manche Menschen ohne Zugang zu Trinkwasser und Elektrizität leben, während sich andere gerade einen neuen Porsche kaufen? Warum lassen sich Menschen von der Regierung an der Nase herumführen? Wie kann es sein, dass in einer demokratischen Republik Menschen der Mund verboten wird und jemand, der sich gegen die Regierung äußert, deshalb seinen Job verliert? Und wie schaffen es diejenigen Menschen hier, die fast nichts haben, voller Hoffnung zu sein und für das Wenige, das ihnen gegeben ist, so unglaublich dankbar zu sein? Warum wissen wir unsere Reichtümer kaum zu schätzen und wollen immer noch mehr haben, ohne uns jemals zufrieden zu geben? Warum trägt hier kaum jemand einen Helm, wenn er Motorrad fährt? Warum schnallt sich beim Autofahren niemand an? Warum liegt überall Müll herum? Warum bekommen hier zweijährige Kinder Cola zu trinken? Warum verzichten Menschen auf Essen, um sich ein Smartphone als Statussymbol leisten zu können? Warum fällt so oft der Unterricht aus und weshalb gibt es unzählige Feiertage, an denen nicht gearbeitet wird? Warum sind Beamte bestechlich und warum sehen Polizisten dabei zu, wenn sämtliche Verkehrsregeln gebrochen werden? Warum ist es ein normaler Zustand, dass 16-jährige Mädchen zum zweiten Mal schwanger werden? Warum scheint dieses Land wirtschaftlich den Bach hinunter zu gehen und von einer Krise in die nächste zu stürzen?
Es irritiert immer wieder aufs Neue, dass riesige Villen direkt neben Bruchhütten stehen, in denen sich 15 Menschen zwei Zimmer teilen, wie viele junge Mütter in der Öffentlichkeit stillen, dass scheinbar alles in Raten bezahlt wird, welche Bedeutung hier die Verehrung von Heiligen, insbesondere von Maria, einnimmt und wie wenig selbständig und wie abhängig vom Elternhaus der Großteil der jungen Leute hier ist. Auch ist es ungewohnt, wie mit sozialen Netzwerken umgegangen wird, da es scheinbar ein anderes Verständnis von Privatsphäre gibt, und wie freizügig die Mode in einem eigentlich sehr katholischen Land sein kann.
Meiner Meinung nach geschieht Annäherung in jedem Gespräch, jedes Mal, wenn ich etwas mehr über die Kultur hier erfahre und etwas von meiner eigenen Kultur erzählen kann, was auf beiden Seiten den Horizont erweitert und hoffentlich voreilig gefasste Meinungen abbauen kann.
In der Anfangsphase, als alles noch so unbekannt und neu war, hatten wir das große Glück, dass uns mit unglaublich viel Geduld und Verständnis begegnet wurde und wir genug Zeit hatten, richtig anzukommen und uns einzugewöhnen – an das Klima, die Sprache, die Stadt, die Menschen. Wir wurden von den Mitarbeitern unserer Organisation, aber auch vom Freundeskreis unserer Vorgänger willkommen geheißen und hatten viele Einladungen, sodass wir schnell aufgenommen wurden und Anschluss finden konnten. Nur manchmal wurde ich ins kalte Wasser geworfen, als ich z.B. in der Schule alleine vor eine Klasse gestellt wurde, ohne gesagt zu bekommen, was und mit welchen Materialien man unterrichten soll.
An der Mentalität der Argentinier begeistern mich die Werte der Gemeinschaft und des Teilens, wie sie in Deutschland vielleicht als Ideale existieren, nach denen jedoch kaum einer lebt. Am besten symbolisiert werden diese für mich durch den Mate, der den Alltag der Menschen hier begleitet und der immer mit Freunden, Familien, Arbeitskollegen, aber auch mit Fremden oder Neuankömmlingen, wie wir es waren, geteilt wird – so fühlen sich alle verbunden und dazugehörig. Was gerade für uns, die wir über Jahre hinweg an einen Schulalltag mit enormem Leistungsdruck gewöhnt waren, angenehm und eine willkommene Abwechslung ist, ist die Abwesenheit eben jenen Anspruchs, an dessen Stelle die Akzeptanz und Gewohnheit des „no hacer nada“, des Nichtstuns, steht. Ganz besonders beeindruckt bin ich von der großen Bedeutung des Familienlebens und dem damit verbundenen Zusammenhalt der einzelnen Familienmitglieder. Andererseits hängt damit jedoch auch zusammen, dass viele junge Menschen sehr wenig bzw. nur langsam lernen, selbständig zu werden und vom Elternhaus unabhängig zu sein. Was ich an der südlichen Mentalität ebenfalls toll finde, ist die Improvisationskunst und die Spontanität, da einem so gezeigt wird, dass es nicht immer nötig ist, alles genau im Voraus zu planen, da schlussendlich sowieso alles anders kommt, als man es sich vorstellt und man somit mehr den Moment, mehr im Hier und Jetzt leben kann. Worin sich die Grundeinstellung der Südamerikaner vermutlich am meisten von der der Europäer unterscheidet, ist das andere Verantwortungsbewusstsein. Insbesondere bezüglich des Umgangs mit der Umwelt ist mir dies aufgefallen: Während wir es beispielsweise gewöhnt sind, in Deutschland den Müll stets in Restmüll, Kompost, Papier, Plastik, Glas etc. zu trennen und zu entsorgen, gibt es hier, wenn der Abfall gerade nicht in den Straßengraben geworfen wird, nur Mischmüll. Gleichermaßen geht kaum jemand sparsam mit Strom um und obwohl die Menschen die Armut und den Hunger sozusagen direkt vor der Haustür haben, wird Tag für Tag Essen weggeschmissen. Für Themen wie Umweltschutz, gesunde Ernährung und Sicherheit im Alltag, vor allem im Straßenverkehr, gibt es hier keine bzw. nur sehr sporadisch Sensibilisierung oder Versuche, Bewusstsein dafür herzustellen. Auch wird meines Erachtens weniger verantwortungsvoll sich selbst und der eigenen Gesundheit gegenüber umgegangen, was z.B. ausgewogene Ernährung, Zahnhygiene und das Einnehmen von teilweise sehr starken Medikamenten betrifft. In den Schulen sowie in Familien habe ich den Eindruck, dass die Kinder mit mehr Gelassenheit erzogen werden, dass sie mehr Freiräume bekommen als in Deutschland üblich und mehr geduldet wird.
 

Mittwoch, 12. Februar 2014

Reise duch Südbrasilien und Argentinien - Teil 3







Mit neuer Energie und Motivation starten wir nun ins zweite Halbjahr unseres Freiwilligendienstes. Besos y abrazos desde Santiago !

Reise durch Südbrasilien und Argentinien - Teil 2









Reise durch Südbrasilien und Argentinien - Teil 1

Fünf Wochen waren wir unterwegs - in Sao Paulo, Piracicaba, Florianópolis, Iguazú, El Dorado, Buenos Aires und Gualeguaychú. Hier ein kleiner Bericht unserer wunderschönen und beeindruckenden Reise in Form von Bildern.